Ins Blaue hinein

Gabriele Wiesike gibt der Farbe einen Ort. Einen Ort in der Zeit. Ihre abstrakten Farbkompositionen sind fest verankert in der Wirklichkeit, konkret fassbar und fiktiv zugleich. Bei den Bildern ihrer aktuellen Werkphase konzentriert sie sich im Wesenskern auf Farbereignisse, Farbverläufe und Farbabfolgen. Vor allem auf die Farbstimmungen, die aus einem vielfach rhythmisch strukturierten Zusammenspiel meist weniger Farbtöne resultieren, kommt es der Künstlerin bei ihren neusten Arbeiten an. Bild um Bild findet Gabriele Wiesike die ‘richtige’, die für sie selbst im Moment des Malens aus innerer Notwendigkeit resultierende Position für ihre Farben auf der Leinwand und erfindet so ihre Farbräume als Orte chromatischer Imaginationskraft.

„Für den Maler sind nur die Farben wahr. Ein Bild stellt nichts dar, soll zunächst nichts darstellen als Farben.“

Paul Cézanne

Ihren vielstimmigen Kanon leuchtender Farben, vor allem Ultramarinblau, Grasgrün, Feuer- und Kadmiumrot bis hin zu einem grünlich schillernden Neongelb oder zu delikaten Kombinationen von Elfenbeinweiß mit Grau und Einsprengseln von Schwarz präsentiert sie effektvoll wie konsequent auf das Zusammenspiel weniger Farbklänge reduziert. Die Malerin baut beim Kolorit wirkungsvoll auf meist duale Hell-dunkel-Kontraste. Zwei, maximal drei zentrale Farben bzw. deren Farbvaleurs bestimmen die Bildwirkung. Geometrisierend, aber nie abgezirkelt zeigen sich dabei die Farbformen und Farbflächen – vielfach werden sie als senkrecht oder horizontal angeordnete Streifenformationen unterschiedlicher Breite; als nebeneinander gereihte oder wie zu einem luftigen Gitterwerk miteinander verwobene oder verflochtene Farbbänder in Szene gesetzt.


ZEICHNUNG | 32 X 48 | 2018 | Eitempera auf Papier

Viele Werke Wiesikes wirken in ihrer schwebenden Leichtigkeit so, als habe sich der Pinsel, aber auch der häufig eingesetzte Spachtel seinen Weg fast wie von selbst gesucht: um Bänder-, Streifen-, Gitterstrukturen; einen senkrecht oder diagonal verlaufenden, bildfüllenden Strichregen oder ein All-over von Farbtupfen zu setzen. Bisweilen sparsam und rudimentär ergänzt durch grafisch wirkende, gemalte oder auch eingekratzte Linien, gestische Linienkürzel, freie Lineamente oder filigrane Liniengespinste. Farbformationen, die von der Künstlerin im Finish auch teilweise wieder zurückgenommen werden können. Aufbrechende, verletzende Ritzungen oder Kratzspuren kommen als destruktive Strukturelemente im konstruktiven Bildaufbau ergänzend mit ins Spiel.

Gabriele Wiesikes Weg hat hin zu zusehends minimalistischeren Farbsetzungen und ihre Gemälden bis hart an die Grenze zur Monochromie geführt, die bisweilen auch überschritten wird. Aber selbst die nahezu monochrom wirkenden Arbeiten sind stets erstaunlich vielschichtig und komplex.

„Malen heißt nicht Formen färben, sondern Farben formen.“

Henri Matisse

Die Malerin insistiert auf Erkundungen zur Wirkung wie zur Materialität der Farben sowie deren haptischer Qualitäten. Diese Erkundungen sind bei ihr indes eher poetischer, tendenziell mehr lyrischer statt analytischer Natur, haben ganz und gar nichts von mathematisch-systematischen Farbfelduntersuchungen. Es geht um Schönheit, um die Delikatesse der Farbklänge. Auf dem Terrain abstrakter, konkreter Malerei entwickelt die Künstlerin ihren eigenen Realismus der Farben jenseits von Gegenständlichkeit und unmittelbaren Rückbezügen auf die Welt der greifbaren Dinge. Bei Gabriele Wiesike gewinnt die wirkliche Vorstellung gegenüber einer vorgestellten Wirklichkeit oft die Oberhand. Malen bedeutet für sie vor allem: Farbempfindungen aufzuspüren, zu definieren und organisieren; sie strukturiert auf der Leinwand zu konkretisieren.“

Der Malakt ist für die Künstlerin ein intuitiv gesteuerter, zugleich aber auch intellektuell gezügelter Prozess, der ohne ein vorab bis ins Letzte fixiertes Ziel in Gestalt eines bereits festgelegten Motivs auskommt. Salopp gesagt nimmt sich Gabriele Wiesike die Freiheit ‘ins Blaue hinein’ zu malen. Man darf das zum einen ganz wörtlich nehmen, denn Blau – Farbe der Ferne, der Verheißung und des Intellekts, der blauen Blume der Romantik bei Novalis“ und gleichermaßen Symbol für etwas Verlorenes wie für etwas Wiederzugewinnendes – sie ist die erklärte Lieblingsfarbe der Künstlerin. Insbesondere als strahlendes Ultramarin.


LICHTBLICK | 60 X 60 | 2023 | Mischtechnik auf Leinwand

Zum anderen aber verweist das ‘ins Blaue hinein’ malen auf ihre Vorgehensweise. Erste Vorstellungen hat sie vor ihrer noch leeren Leinwand zwar im Hinterkopf, doch bleiben diese zunächst noch eher vage. Wiesike wagt und nimmt sich die Freiheit, ihrer Fantasie bei diesem intuitiv gesteuerten Prozess keine Schranken aufzuerlegen. Es gilt Laisser-faire walten zu lassen, um im richtigen Moment wieder die Kontrolle zu ergreifen. Unvorhergesehenes ist dabei vorprogrammiert wie bewusst mit einkalkuliert, die Mitwirkung des gesteuerten Zufalls erwünscht wie gewollt. Es gilt, zumindest ein Stück weit, auch sich selbst überraschen zu lassen auf dem langwierigen, spannenden und immens vielschichtigen Weg von der leeren Leinwand hin zum fertigen Gemälde. Das Vorbewusste kommt dabei mit zum Tragen, das sich aus bereits gewonnen Erfahrungen speist. Die Hand denkt, im Kopf ist es abgeklärt. Der kreative Malprozess wird so zu einer Art „Fahrt ins Blaue““: ein Aufbruch ins Ungewisse – dorthin, wo es noch Unbekanntes zu entdecken und zu erkunden gilt.

Titel wie “Fenster“, “Wand“, oder “Gatter“ sind bei Gabriele Wiesike kein Wink mit dem Zaunpfahl zur Sinnstiftung und Dechiffrierung einer Bildidee. Sie stellen keine Hilfestellung dar, die sie dem Betrachter bei der Erkundung der Bilder zur Interpretation mit auf den Weg gibt. Höchstens den verklingenden Nachhall eines Echos auf die reale Außenwelt der dinghaften Objekte. Die im Nachhinein festgelegten Bildtitel sind für sie eher pragmatische, allenfalls assoziative Kennzeichnungen. Bei der Abfolge von runden Kreissegmenten, die im roten Fanal ihres mit „“Kette“ betitelten Bildes aus den Tiefenschichten hervorblitzen, in einem Moment zwischen Erscheinen und Entschwinden auftauchen und dem Blick wieder zu entgleiten beginnen, darf sich der Betrachter durchaus an die überdimensionalen Perlen einer gigantischen Kette erinnert fühlen. Er kann sie aber ebenso gut genießerisch als reine Farbattraktionen betrachten oder sie als Versuchsballons zum Ausloten der Grenzen des Sichtbaren verstehen. „“Blase“ kann sowohl Luftblase, Seifenblase, Gedanken- und Spruchblase oder eine Fadenschlinge sein, braucht aber im Grunde als nicht mehr gesehen zu werden als ein Linienkürzel, das in gelungener Setzung die visuelle Attraktion im Gerüst der malerischen Gesamtkomposition darstellt. Dem Betrachter wird stets jedweder Freiraum eröffnet, ein Bild auch völlig anders zu sehen. Denn das eigentliche Bildgeschehen, das es für den Betrachter zu entdecken und erkunden gilt, ist die Malerei selbst.


PIT STOP BERLIN III | 120 X 90 | 2018 | Mischtechnik auf Leinwand

So verweist der Titel der Bildserie „“Pit Stop Berlin“ Berlin zwar erwartungsgemäß auf die der gleichnamige Kette von Autowerkstätten. Doch auf verblüffende Art und Weise. Wiesike begeisterte sich für die ausgemusterten Gummiwischlappen, die von den rotierenden Bürsten der von Pit-Stop betriebenen Waschanlagen stammen. In ihrem Charlottenburger Atelier kommen diese jetzt höchst effekt- und wirkungsvoll als unkonventionelles wie originelles Malwerkzeug zu ihrem experimentellen Kunst-Einsatz.

Die Malerin zeigt sich mit ihren jüngeren Bilder auf ungezwungene, spielerische Art und Weise experimentier- und risikofreudig, auch bei haptischen Effekten. Schon länger setzt sie Farbbeimischungen wie Sand, Asche oder Marmormehl ein. Wiesike wagt außerdem zuweilen den souveränen Einsatz auf die Farbfläche eincollagierter Papiere von Krepppapier bis Pappe. Bei dem Bild „“„Blase“ erzielt sie mit diesem Verfahren reliefartige Oberflächenwirkungen, bei den Werken der Serie „“„“Faltungen“ rhythmisch gliedernde, hier sogar die Komposition zentral tragende Strukturen.

Es sind Bilder, die Grenzgänge wagen und die die Erfahrungen kennen, sich selbst aufs Spiel zu setzen. Ihre Balance ist eine latent gefährdete. Ihre Harmonie die eines prekären Gleichgewichts. Der Moment des möglichen Misslingens schwebt stets wie ein Damoklesschwert über ihnen, wird aber mit jedem einzelnen Bild wieder erfolgreich gebannt. Gabriele Wiesikes Werkentwicklung hat es um eine weitere Erfahrung bereichert. So erhält sie ihren Bilder, den spannungsreichen Balanceakten immer wieder aufs Neue die frische Spontanität.

Elfi Kreis